In ihrem turbulenten Leben hat Doreen Falk schon immer den Dienst am Nächsten praktiziert. Ob als Sanitätssoldatin, Krankenpflegerin, in der Seniorenhilfe, als Arztassistentin oder beim Reinemachen. Beim Befüllen von Verkaufsregalen oder – erst neulich – beim Begleiten einer krankheitsanfälligen Nachbarin zum Arztbesuch. Dabei braucht die engagierte Frau aus Ostdeutschland Jahrgang 1972 seit Monaten dringend selbst die Unterstützung anderer. Von dem einstigen Energiebündel voller Tatendrang mit zahlreichen Berufswünschen blieb ein schmerzgepeinigter, erschöpfter Mensch übrig, der auf staatliche Hilfe bauen muss. Der Aufdruck „GdB 50“ an ihrem Schwerbehindertenausweis gibt an, wie schwer sich die gesundheitlichen Schäden auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auswirken. Zum Welttag der Sozialen Gerechtigkeit an diesem 20. Februar fragen wir: Wie konnte es nur so weit kommen?
Sicher, im Alter von zwölf Jahren mit der Mutter und dem zwei Jahre älteren Bruder vom damaligen DDR-Regime „ausgebürgert“ zu werden, stellte für die Jugendliche eine Zäsur dar. Dennoch blickt Doreen Falk auch heute noch gerne zurück: „Ich war jeden Sommer beim Opa, der im Ostseeheilbad Zingst ein hübsches Ferienhäuschen besaß“, schmunzelt sie und lässt in ihrem sonst eher traurigen Blick ein Lächeln aufscheinen. „Ich war gewissermaßen sein Liebling und er für mich der Größte“, erzählt die gebürtige Leipzigerin, die das Schwimmen in der Ostsee über alles liebte. Und schon als Jugendliche von so einem Gebäude mit spielenden Kindern geträumt hat.
Nach dem Umzug in den freien Westen gehörten für die Schülerin zu den zahlreichen Anpassungsherausforderungen im Alltag der neue Umgang im Klassenzimmer: „Bei uns im Osten gab es ein strenges Regiment, beim Eintreten des Lehrers oder der Lehrerin standen alle auf – und jetzt war alles so viel lockerer.“ Weil fortan die Fremdsprache Englisch statt Russisch hieß, brachte die Neue manchmal die Verben durcheinander. Das immer wieder auftauchende „Sächseln“ in ihren Sätzen war ihr mitunter richtig peinlich.
Weil die so sehr gewünschte Ausbildung als Friseurin aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden musste, fand die nach Schwaben Zugezogene beim Sanitätsdienst der Bundeswehr in Lagerlechfeld eine andere, für sie sinnvolle Beschäftigung. Auch danach kamen für die talentierte Betreuerin vor allem Jobs in der Krankenpflege und für Seniorendienste, etwa in Gersthofen, infrage. Weitere Stationen waren Haunstetten und Augsburg.
Da sie vor fast 30 Jahren mit ihrer Tochter schwanger war, wollte die mittlerweile Wahl-Augsburgerin Prioritäten setzen, spätestens als auch der Sohn unterwegs war: „Das Wichtigste für mich sind meine Kinder.“ Daher folgten nur noch Teilzeitbeschäftigungen und Gelegenheitsarbeiten. Weiterhin träumte Doreen Falk von einem hübschen Häuschen im Grünen und mit spielenden Kindern. Solche Aussichten verblassten bald, dafür sorgten mehrere Schicksalsschläge wie Trennung vom langjährigen Partner, Tod der geliebten Mama, das Patenkind starb.
Dem beruflichen Abstieg – immerhin hatte Falk es einmal bis zur Teamleiterin gebracht – schloss sich der gesundheitliche Niedergang an: Bandscheibenvorfälle, Nierenprobleme, chronische Migräne, zwei abgerissene Sehnen. Dazu Kreislaufschwierigkeiten, Tinnitus und viele schlaflose Nächte. Seit vergangenen Herbst krankgeschrieben, muss die 52-jährige am Küchenherd auf einem Stuhl Platz nehmen, um für ihren Enrico die Lieblings-Nudelspeise zuzubereiten. Das Kind Nummer drei, das ihr geblieben ist, nachdem die beiden volljährigen Geschwister sich woanders aufhalten. „Er ist ein wirklich Braver“, zärtlich beurteilt die Mutter ihren 13 Jahre alten Buben, der gerne Fußball spielt. Die Hausarbeit fällt zunehmend schwer. Ihre größte Sorge: „Wenn ich mal hinfalle, wer hilft mir dann auf?“
Was der immer wieder von Depressionen gepeinigten Frau dennoch hilft und ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, ist, dass sie seit fast drei Jahren in einer besonderen Bleibe wohnt. Eine Unterkunft, die 2016 speziell für solche schwierigen Lebenssituationen entstanden war: das Ellinor-Holland-Haus, benannt nach der Gründerin des Leserhilfswerks unserer Zeitung, Kartei der Not. Deren Philosophie: „Die Not vor unserer Haustür geht uns alle an.“
Im Augsburger Textilviertel gelegen, bietet es laut Eigenbeschreibung für maximal drei Jahre einen vorübergehenden Schutz- und Erholungsraum, um zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Ein pädagogisches Team steht dabei zur Seite. Wegen der internen Statuten muss Doreen Falk im kommenden Sommer die Dreizimmerwohnung für eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger räumen. „Man wird hier nicht rausgeschmissen, aber ich bemühe mich intensiv um eine Unterkunft“, betont sie. Die ungewisse Aussicht auf ein neues Zuhause und der tägliche Kampf ums Auskommen drücken die Stimmung. Von den staatlichen Sozialzuwendungen – nach Abzug von Miete, Nebenkosten und etwa Versicherungen – bleiben jeden Monat meist nur um die 300 Euro übrig. „Groß Essengehen und häufiges Kino oder eine Reise unternehmen, das ist nicht drin“, bemerkt Doreen Falk bitter. Und an ein schmuckes Häuschen mit spielenden Kleinen zu denken, fällt ihr jetzt schwer.
Text: Günter Stauch
Bild: Marcus Merk